Der erste Schritt ist oft schwerer als die ganze Therapie.
Warum der Gang zur Psychotherapie schwerer fällt als der zum Zahnarzt
Ein 35-jähriger Familienvater. Beruflich erfolgreich, privat präsent, sozial unauffällig. Nur innerlich – da ist etwas nicht stimmig. Chronische Erschöpfung, diffuse Leere, aber keine klare Erklärung.
Dann sitzt er beim Friseur, blättert in einer Zeitschrift, liest von Prominenten, die offen über Depression sprechen. Und plötzlich: dieser Moment.
„Verdammt, das bin ja ich.“
Drei Wochen später sitzt er in meiner Praxis.
„Warum habe ich das nicht früher gemacht?“, sagt er. „Ist ja gar nicht so schlimm.“
Diese Szene ist nicht ungewöhnlich. Zahnschmerzen? Sofort zum Arzt. Psychischer Schmerz? Da zögern viele. Wochen. Monate. Jahre.
Warum eigentlich?
Der innere Widerstand spricht mit
„Das bringt doch nichts.“
„Ich hab keine Zeit.“
„Ich funktioniere doch noch.“
Die innere Stimme klingt bei jedem anders:
- Als Controller: „Zu teuer, zu unklar, zu wenig ROI.“
- Als Unternehmer: „Passt nicht ins Timing, keine messbaren Ergebnisse.“
- Als Beamter: „Was, wenn das jemand mitbekommt?“
Aber das Muster ist dasselbe: Der Verstand argumentiert – um die Emotion zu vermeiden. Lieber bleiben wir im Bekannten, selbst wenn es wehtut. Lieber der vertraute Schmerz als das unbekannte Risiko.
Psychotherapie ist keine Schwäche
Wer mit seelischen Themen hadert, ist nicht defekt – sondern menschlich. Unser Gehirn ist auf Sicherheit ausgelegt. Neues wird pauschal mit „Nein“ beantwortet, weil es potenziell gefährlich sein könnte. Das war einmal überlebenswichtig.
Doch was früher Schutz war, kann heute zur Fessel werden. Viele haben gelernt: Funktionieren ist sicherer als Fühlen. Und so entsteht etwas, das man „erlernte Hilflosigkeit“ nennt – eine Art inneres Sparprogramm, das sich selbst bestätigt.
Kultur, Kontrolle und das deutsche Überlebensmuster
In meiner Praxis sehe ich oft ein spezifisch deutsches Motiv: Durchhalten um jeden Preis.
„Ich schaff das schon.“
„Nicht jammern. Weitermachen.“
Andere Kulturen haben andere Stolpersteine – Angst vor Gesichtsverlust, familiäre Loyalitätskonflikte. Aber die Dynamik bleibt gleich: Lieber allein kämpfen als Schwäche zeigen. Lieber das Leiden normalisieren, als es in Frage zu stellen.
Dabei ist Hilfe zu suchen kein Luxus. Es ist Verantwortung. Für sich. Für das eigene Umfeld.
Was in den ersten 5 Minuten passiert
Wenn jemand sich doch meldet – per Mail, Telefon, Formular – folgt meist ein kurzes Gespräch. Ich frage:
„Gibt es etwas, das gerade besonders drückt?“
Keine Formulare, keine Formalitäten. Einfach: Was ist los?
Und oft spürt man es sofort: Der Körper wird ruhiger. Der Blick klarer. Die Haltung weicher. Nicht spektakulär – aber spürbar. Eine kleine Entlastung, die zeigt: Hier darf etwas gesagt werden, das sonst keinen Raum hat.
Online oder vor Ort?
Manche bevorzugen den Online-Kontakt: vertraute Umgebung, niedrigere Schwelle, mehr Distanz.
Andere brauchen die Präsenz: echte Begegnung, fühlbare Resonanz, klarere Verbindung.
Beides ist richtig. Die Entscheidung selbst ist oft schon Teil des therapeutischen Prozesses:
Was brauche ich, damit ich mich zeigen kann?
Der Moment der Klarheit
Was mich immer wieder bewegt: Menschen quälen sich lange – dann wagen sie den ersten Schritt. Und denken danach:
„Warum nicht schon früher?“
Nicht, weil plötzlich alles gut ist. Sondern weil sich etwas verschoben hat. Die Erlaubnis, Hilfe anzunehmen. Die Erfahrung, dass man nicht allein ist. Die Erkenntnis, dass Veränderung möglich ist – ohne Drama.
Was dann beginnt
Ich nenne es: Kohärenz.
Dinge ordnen sich.
Zusammenhänge werden verständlich.
Muster verlieren ihren Schrecken.
Man muss nicht am Ende sein, um diesen Weg zu gehen. Es reicht, wenn man genug hat vom inneren Leerlauf. Wenn man aufhören möchte, sich selbst zu übergehen.
Und wenn Sie das lesen…
…und sich irgendwo wiederfinden, dann war das vielleicht schon der erste Schritt. Kein lauter. Aber ein ehrlicher.
Sie müssen nicht alles erklären können. Sie müssen auch nichts versprechen. Es reicht, zu merken:
So wie es ist, will ich nicht weitermachen.
Der Rest klärt sich.